Womit sich Kirchen beschäftigen

Liebe Leserin, Lieber Leser

 

«Heutzutage beschäftigen sich die Kirchen hauptsächlich mit sich selber». Diesen Satz habe ich am Sonntagmorgen im Radio gehört. Gesagt hat ihn ein Mann, der seit vielen Jahren in der Kirche und in der Friedensbewegung aktiv ist. Mich lässt diese Aussage nicht mehr los, weil sie einen wahren Kern trifft. Man kann es nicht von der Hand weisen: Gedanken über Strukturen, über Finanzen, über Zusammenarbeit und Abläufe in der Kirche beschäftigen uns. Das Nachdenken über mögliche Zukunftsszenarien und das Abwägen unterschiedlicher Ideen brauchen Zeit und Energie.

Auch die evangelisch-reformierte Landeskirche beider Appenzell hatte im vergangenen Jahr viel mit sich selber zu tun. 2021 lag endlich der Entwurf für die neue Verfassung vor. Natürlich ging es dabei um grosse Fragen: Wer wollen wir als evangelisch-reformierte Kirche beider Appenzell sein? Wie organisieren wir uns? Wer hat welche Rechte und Pflichten? Im letzten Jahr trat dieser aufwändige Prozess in eine entscheidende Phase. Die vorliegende Version wurde in verschiedenen Gremien und Interessensgruppen breit diskutiert, verändert, ergänzt. Engagierte Frauen und Männer haben juristische Fragen gestellt, sich Gedanken über Abläufe gemacht und nach besseren und eindeutigeren Formulierungen gesucht. Im letzten Jahr fand auch die Vernehmlassung statt. Ganz unterschiedliche Personen haben ihre Meinung zum Verfassungsentwurf geäussert. Und nach Möglichkeit wurden ihre Anregungen aufgenommen und in den Text eingewoben. Die Herausforderung dabei war, dass der rote Faden im Text erhalten blieb.

Im März 2022 hat das Kirchenparlament – die Synode – dem Entwurf in zweiter Lesung zugestimmt. Im Juni kommt die Vorlage vors Volk. Ich bin froh, dass wir so weit gekommen sind. Damit ist ein grosses Etappenziel erreicht. Wenn die Mehrheit der stimmberechtigten reformierten Appenzellerinnen und Appenzeller der neuen Verfassung zustimmt, tritt sie am 1. Juli 2022 in Kraft.

Damit ist der Prozess aber nicht abgeschlossen. In den nächsten Jahren müssen Reglemente formuliert und an die neue Verfassung angepasst werden. Die Arbeit geht uns also nicht aus. Wir werden weiterhin mit uns selber beschäftigt sein.

Aber: Die neue Verfassung ist ein Fundament. Weil eine neue Verfassung erarbeitet wurde, können wir wieder aufschauen. Wir können den Blick schweifen lassen. Wir können unseren Horizont erweitern. Wir können aufmerksam sein für Menschen, die an anderen Orten der Welt ganz anders Kirche sind. Oder Menschen, die zu uns kommen und ihre Frömmigkeit ganz anders leben. Somit hoffe ich, dass die neue Verfassung hilft, mit anderen in Kontakt zu kommen und uns mit anderem zu beschäftigen.

 

Herzlichen Dank allen, die Energie und Zeit in diesen Prozess investiert haben. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bleiben Sie behütet. Geniessen Sie die Lektüre des Jahresberichtes und tauchen Sie in die Vielfältigkeit unserer Landeskirche ein.

 

Martina Tapernoux-Tanner, Kirchenratspräsidentin

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